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Flüchtlinge brauchen unsere Grosszügigkeit

Nach längerer Zeit melde ich mich im Atemhaus wieder einmal zu Wort, und zwar mit meiner Predigt für den morgigen Eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettag, die ich zum Thema „Flüchtlinge brauchen unsere Grosszügigkeit“ halten werde. Als Bibelstellen habe ich einen Abschnitt aus dem 3. Buch Mose zugrundelegt (Und wenn ein Fremder bei dir lebt in eurem Land, sollt ihr ihn nicht bedrängen. Wie ein Einheimischer soll euch der Fremde gelten, der bei euch lebt. Und du sollst ihn lieben wie dich selbst, denn ihr seid selbst Fremde gewesen im Land Ägypten. Ich bin der HERR, euer Gott.“ – 19,33-34) und das Gleichnis vom Weltgericht aus Matthäus 25.

Liebe Gemeinde

Ethisch Wirtschaften – das ist das Thema der Bettagsbotschaft und der Bettagskollekte. Ein wichtiges Thema zweifellos. In der nächstjährigen Kampagne und Sammelperiode von Brot für Alle und Fastenopfer wird dieses Thema im Zentrum stehen. Wenn die christliche Botschaft für alle Bereiche unseres Lebens von Bedeutung ist – und davon bin ich überzeugt -, dann ist auch die Frage, wie wir wirtschaften, hier bei uns und weltweit, eine zentrale Glaubensfrage. In diesen Tagen aber beschäftigen uns alle die Bilder von Flüchtlingen, die Zuflucht suchen bei uns in Europa. Deshalb habe ich auch den kurzen Abschnitt aus dem 3. Buch Mose und den Predigttext aus dem Matthäusevangelium ausgesucht – als biblische Orientierungshilfe angesichts der gegenwärtigen Flüchtlingsnot.

In den letzten Wochen und Monaten hat sich fast unmerklich etwas verändert. Noch vor einem Jahr schien eine Haltung vorzuherrschen, die man etwa so umschreiben kann: Wir sind nicht verantwortlich für die Not der ganzen Welt. Wir müssen uns schützen vor dem Zustrom allzu vieler Flüchtlinge und Migranten. Es hat keinen Platz bei uns für die, die primär aus wirtschaftlichen Gründen flüchten. Gerade noch brannten in Deutschland Gebäude, die als Flüchtlingsunterkünfte vorgesehen waren. Und dann sahen wir plötzlich die Bilder von vollen Zügen, die von Ungarn über Wien nach München gelangten. Wir sahen die Bilder von den vielen Freiwilligen, die versuchten zu helfen, wo es nur ging, die die neu angekommenen Flüchtlinge willkommen hiessen. Und in dem durchorganisierten Land wurde plötzlich improvisiert und in dem Moment, in dem es vielleicht wirklich berechtigt gewesen wäre, von einer Flüchtlingsflut zu reden, dominierte auf den Strassen und in den Medien die Hilfsbereitschaft, die Solidarität, das Bedürfnis, Menschen in Not zu helfen. Ich weiss, dass es dann auch die Erfahrung der Überforderung gegeben hat, die Wiedereinführung von Grenzkontrollen usw. – aber diese beiden Wochenden, an denen Zehntausende von Flüchtlingen angekommen sind – und willkommen geheissen wurden, sie haben etwas verändert. Sie sind ein Hoffnungszeichen. Umso mehr als wir daneben auch die Bilder prügelnder Polizisten in Ungarn gesehen haben oder wie dort Essenspakete wie bei einer Tierfütterung in die Menge geworfen wurden, von den unsäglichen Äusserungen des Ministerpräsidenten ganz zu schweigen. Ich weiss nicht, wie es ihnen gegangen ist, aber mir ist bei diesen Bildern sofort klar geworden: ich weiss, in was für einem Europa ich leben möchte, nämlich in einem, das aussieht wie in München, wo Flüchtlinge willkommen geheissen werden und Hilfsbereitschaft erfahren und nicht in einem Europa, das so aussieht wie diese Bilder aus Ungarn.

Was sich da in der öffentlichen Wahrnehmung verändert hat, hat mehrere Ursachen. Schon die Bilder von kenternden Flüchtlingsbooten, das furchtbare Schicksal der ertrunkenen Flüchtlinge im Mittelmeer haben etwas verändert. Das Bild des ertrunkenen 3-jährigen Flüchtlingskindes Ailan an einem türkischen Strand hat viele berührt und uns fragen lassen: Ist es das was wir wollen oder zumindest in Kauf nehmen, um unsere Grenzen und unseren Wohlstand zu schützen? Und es waren wohl die Bilder dieser Menschenmengen an der ungarischen Grenze, die uns klargemacht haben: diese Menschen sind da, sie sind schon mitten unter uns und sie sind in Not. Wir müssen uns entscheiden zwischen einer Brutalität, die wir uns nicht zugetraut haben und einer Grosszügigkeit, die uns bis vor kurzem auch noch unmöglich schien.

Die beiden biblischen Texte, die wir vorhin gehört haben, geben uns in dieser Frage eine klare Orientierung. Und ich denke und hoffe, dass es auch die Stimme unseres Herzens tut. Die Antwort kann nur Grosszügigkeit sein.

Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen. Ich war nackt, und ihr habt mich bekleidet. Ich war krank, und ihr habt euch meiner angenommen. Ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen. (Mt 25,35f)

In dem Menschen, der unsere Hilfe braucht, begegnet uns Christus. Das ist kein vereinzeltes Bibelzitat. Es ist der rote Faden der Bibel, der Kern unserer christlichen Botschaft. Man kann im Christentum über vieles streiten, kann sehr unterschiedliche Glaubensansichten vertreten, aber dass wir Christus erfahren im Anruf des Anderen, in der Begegnung mit Menschen, die Hilfe und Zuwendung brauchen, gerade auch in Flüchtlingen, das können wir nur um den Preis der Selbstaufgabe zur Diskussion stellen. Am Umgang mit Bedürftigen und am Umgang mit Fremden erweist sich, wie wir Christus begegnen – viel mehr als in allen Bekenntnissen und Glaubenswahrheiten. Und auch der alttestamentliche Text aus dem 3. Buch Mose verbindet die Aufforderung, den Fremden nicht zu bedrängen und ihn wie einen Einheimischen zu behandeln, mit der Urerfahrung des Volkes Israel – „denn ihr seid selbst Fremde gewesen im Land Ägypten“. Die Erfahrung der Fremde, die Erfahrung der Befreiung und die Migration ist das Zentrum der vielbeschworenen jüdisch – christlichen Tradition. Sie ist unser Erbe, das wir niemals vergessen sollten.

Franz Hohler hat im Geiste dieser Tradition ein Flüchtlingsmanifest verfasst. Darin heisst es:

„Flüchtlinge machen uns ratlos.
Uns geht es gut, und nun kommen Menschen, denen geht es so schlecht, dass sie keinen anderen Weg sehen als ihr Land zu verlassen, und wenn es noch so schwierig ist. Der Tod, dem sie zu entkommen versuchen, lauert ihnen auch auf der Flucht auf.

Flüchtlinge machen uns Angst, denn sie kommen aus einem Elend, das uns fremd ist. Wir vergessen, dass sie es sind, die Angst haben.

Wir fühlen uns von ihnen überfordert. Wir vergessen, dass sie es sind, die überfordert sind von den Verhältnissen in ihrer Heimat und von all dem, was sie auf sich genommen haben.

Wir können uns nicht vorstellen, was es heisst, das Notwendigste zusammenzupacken und den Ort und das Haus, in dem wir gewohnt haben, zurückzulassen. Die Kinder mitzunehmen, obwohl gerade das Schuljahr begonnen hat, die Sprache zurückzulassen, in der wir zu Hause sind, der Zukunft mehr zu vertrauen als der Vergangenheit und der Gegenwart.

Für uns sind Flüchtlinge vor allem eine Bedrohung. Sie bedrohen die Selbstverständlichkeit unseres Normalbetriebs. Wir vergessen, dass sie es sind, die bedroht sind, und dass sie deshalb kommen.

Flüchtlinge machen uns hilflos, denn sie sind es, die Hilfe brauchen. Und wir wissen, dass wir sie ihnen geben könnten. Aber seit 1979 haben wir unsere Asylgesetzgebung fast 40 Mal revidiert und meistens verschärft.

Im Zweiten Weltkrieg hat sich die Schweiz mit dem Satz „Das Boot ist voll“ zu schützen versucht. Rückblickend hat sich gezeigt, dass es im Boot durchaus noch Platz gegeben hätte.

Wir dürfen diesen Satz nicht nochmals zu unserm Leitsatz machen.

Angesichts der mit Verzweifelten überfüllten Boote, angesichts der Ertrinkenden und Erstickenden gibt es nur eine Antwort: Grosszügigkeit.

Damit wir uns jetzt und später nicht zu schämen brauchen.“

(http://fluechtlings-manifest.ch/#manifest – das  Manifest kann man unterschreiben und weiterverbreiten!)

Grosszügigkeit muss unsere Antwort sein – auch wenn wir zuweilen Angst haben, dass uns diese Grosszügigkeit überfordern könnte, auch wenn manche uns als Gutmenschen verspotten, auch wenn es tatsächlich Grenzen des Machbaren und Verkraftbaren gibt und Behörden und Politik vor grossen Herausforderungen stehen. Zwei Äusserungen aus den Medien sind mir dabei wichtig geworden: IKRK-Chef Peter Maurer meinte in einem Interview auf die Frage, ob er ein Gutmensch sei: „Es ist eine Sauerei, wenn Leute, die Grundwerte der Humanität vertreten, in der Politik mit diesem Begriff stigmatisiert werden. Ich hoffe doch, es gibt insgesamt mehr Gutmenschen als andere. Ich hätte gerne viele pragmatische Gutmenschen. Leute, die den Willen haben zu helfen, aber auch die Fähigkeit zu konkreten Entscheiden.“ (Sonntagszeitung vom 12.9.15)

Und der Vorsitzende des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes hat geschrieben: „Wir Schweizer sind privilegiert. Uns geht es wirtschaftlich gut. Seit über 150 Jahren sind wir von Krieg verschont geblieben. Wenn wir jammern, dann auf hohem Niveau. Dass wir uns für die weniger Glücklichen engagieren, ist unter diesen Umständen moralische Pflicht. Wir können noch viel mehr für die Flüchtlinge tun, als wir bereits tun. Und wir sollten mehr tun. Das Boot ist nicht voll. Gerade wir Schweizer, die wir zu Recht stolz sind auf unsere humanitäre Tradition, sollten alle Flüchtlinge unabhängig von den Gründen für ihre Flucht in erster Linie als das behandeln, was sie sind: als Menschen. Sind wir ihnen gegenüber engherzig statt grosszügig, verlieren wir auch unsere eigene Würde.“ (NZZ vom 10.9.15)

Was können wir tun? Wir können Grosszügigkeit zeigen statt Engherzigkeit, ohne unsere Ängste vor den Fremden zu verdrängen und ohne die Ängste anderer zu verurteilen. Wir müssen uns nichts vormachen, die Aufgabe wird schwierig und die Flüchtlingsströme werden auch vermehrt die Schweiz erreichen. Aber sie ist notwendig und sie ist lösbar durch Grosszügigkeit und Engagement. Die Gesamtkirchgemeinde Thun hat schon eine Wohnung für eine Flüchtlingsfamilie zugesagt. Aber es wird noch mehr brauchen, mehr Wohnraum, mehr finanzielle Hilfe und das Engagement von Freiwilligen, die die Menschen, die zu uns kommen, erfahren lassen, dass sie willkommen sind und ihnen helfen, sich mit dem Leben bei uns vertraut zu machen. Dazu stärke und ermutige uns Jesus Christus, der uns in all denen begegnet, die unsere Hilfe brauchen. Amen.

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