Vollversammlung des ÖRK in Karlsruhe – 4. Tag

Im thematischen Plenum des heutigen Tages ging es um die Bekräftigung der Ganzheit des Lebens. Systemische Ungerechtigkeit wurde angesprochen und lebensbejahende Alternativen aufgezeigt. Vertreter:innen von Kirchen aus dem globalen Süden kamen zu Wort.
«Kapitalismus tötet» – wenn wir diesen Satz in einem schweizerischen Kontext aussprechen, geraten wir in Verdacht, uns einer linken bis linksextremen Ideologie zu verschreiben. Und es ist ja tatsächlich so, dass ein auf Konkurrenz und freier Entfaltung aufbauendes Wirtschaftssystem den Menschen im Westen viel Wohlstand ermöglicht hat – allerdings auch eine Menge von hochproblematischen Nebenwirkungen, zu denen die Klimakatastrophe gehört.
Wenn wir auf unsere Schwestern und Brüder im Süden hören, dann ist der Satz «Kapitalismus tötet» keine linke Ideologie, sondern tagtägliche Lebenserfahrung. Das ist mir am heutigen Tag der Vollversammlung des ÖRK wieder einmal bewusst geworden. Als Christ:innen ist es unsere Aufgabe, diese Stimmen des Südens zu hören und sie in unsere Gemeinden und unsere Gesellschaften zu tragen. Wir können nicht anders, als eine weltweite, ökumenische Perspektive einzunehmen. Und wir können unseren Gemeinden unangenehme Wahrheiten, den Blick auf die vulnerablen Menschen nicht ersparen.
Wie gelingt es uns, dabei zu zeigen, dass wir uns nicht einer säkularen Ideologie verschrieben haben, sondern den Schwestern und Brüdern, die durch die gegenwärtige Ausgestaltung unseres Wirtschaftssystems ihrer Lebenschancen beraubt werden? Wie gelingt es uns, die Dringlichkeit eines Umdenkens angesichts des Klimawandels deutlich zu machen, ohne in apokalyptische Szenarien zu verfallen und Resignation oder Radikalisierung zu befördern?
Es kann nur gelingen, wenn wir die hören und sichtbar machen, die unter den gegenwärtigen ökonomischen Strukturen leiden und unter der drohenden Zerstörung von Lebensraum. «Compassion» ist einer der zentralen Begriffe dieser Vollversammlung. Wo das Leiden Mitgefühl weckt und die Liebe Christi uns dazu fähig macht, uns von Herzen mit anderen zu verbinden, wird Veränderung, Einheit und Versöhnung möglich. Es ist keine Ideologie, welcher Couleur auch immer, die uns dazu treibt, strukturelle Ungerechtigkeiten, Ausbeutung und die Verletzung von Menschenrechten anzuklagen, sondern die herzliche Verbundenheit mit den Verletzlichen, in denen uns Christus begegnet.
Wir müssen eine Sprache finden, die deutlich macht, dass es das Mitgefühl mit den Betroffenen ist, welches uns zur Anklage und zum Handeln treibt. Wir müssen eine Sprache finden, die auch denen Respekt entgegenbringt, die in den ökonomischen Strukturen handeln und gerecht, menschlich handeln möchten. Und wir sind uns bewusst, dass es nicht an uns ist, diese Welt zu retten, sondern dass wir auf Gottes Zukunft setzen sollen. Wer aber auf Gottes Zukunft setzt, kann nicht wegschauen, wenn Menschen verletzt und ihrer Lebensgrundlagen beraubt werden.
Am Nachmittag fand die erste Beschlussfassungs-Session statt, bei der 8 Präsident:innen gewählt wurden, sechs aus den verschiedenen Weltregionen und zwei Vertreter der Orthodoxie. Für Europa wurde Rev. Prof. Dr. Susan Durber von der United Reformed Church UK gewählt.

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Vollversammlung des ÖRK in Karlsruhe – Tag 3

Der Freitag stand unter dem Thema Europa und im Zentrum war die Diskussion über den Ukrainekonflikt.
Vor dem Plenum gab es ein mit standing ovations bedachtes Grusswort der Generalsekretärin von Religions for Peace Prof. Azza Karam. Sie unterstrich, dass die Liebe Christi nicht nur den Christ:innen gilt, sondern allen Menschen, auch ihr als Muslima und sie bat die Versammlung, alles dazu beizutragen, dass Krieg keine Option sein darf.
Nach der Rede von Bundespräsident Steinmeier und der harschen Verlautbarung der Delegation der Russisch-Orthodoxen Kirche, die Steinmeier Einmischung in innerkirchliche Angelegenheiten vorwarf, durfte man auf die heutige Plenarsession gespannt sein. Der geschäftsführende Generalsekretär Prof. Ioan Sauca hatte ja zu Beginn der Versammlung betont, dass der ÖRK niemand ausschliesst, sondern eine Plattform des Dialogs ist, ein «safe space» und gleichzeitig die Teilnehmenden aus der Ukraine herzlich begrüsste und den russischen Angriffskrieg mit klaren Worten beim Namen nannte.
Wer im Plenum einen Dialog zwischen Vertretern aus der Ukraine und Russland erwartet hatte, wurde enttäuscht. Die Bühne der Schwarzwaldhalle wäre dafür sicher auch kein geeigneter Rahmen gewesen. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Dialog im kleinen Kreis am Rande der Versammlung möglich wird und Schritte der Annäherung gegangen werden. Im Plenum kamen dafür Vertreter:innen aus der Ukraine zu Wort, die uns eindrücklich auf ihr Schicksal und die humanitären Aufgaben der Kirchen hinwiesen. Man darf diesen Entscheid, auf die Stimme der Opfer zu hören, durchaus als klare Stellungnehme des ÖRK zugunsten der Opfer dieses Konflikts und gegen die russische Aggression verstehen.
Im Swisshub der EKS fand eine Podiumsdiskussion “Being Protestant in Europe today, contributing to reconciliation and unitity” statt. Engagiert diskutierten Annette Kurschus, Präses der EKD, Emmanuelle Seyboldt, Präsidentin der Eglise Protestant Unis de France und die Präsidentin der EKS Rita Famos miteinander und stellten sich den Fragen des Publikums. Dabei wurde deutlich, wie unterschiedlich die Rolle der Kirche in den drei Ländern ist, mit welchen gemeinsamen Herausforderungen sie aber auch konfrontiert sind.

Podiumsgespräch im Swiss Hub der EKS
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Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Karlsruhe Tag 2

Vielstimmig, vielsprachig und bunt – die Gottesdienste an der Vollversammlung sind ein Erlebnis. Sie vermitteln eine Ahnung des Pfingstgeistes. Berührend war heute eine Zeremonie, in der Vertreter:innen aller Weltgegenden Wasser in ein Becken schütteten. Abgeschlossen wurde die Zeremonie mit den Worten: «Wir werden ernährt, versorgt und miteinander verbunden. Wir sind angewiesen auf alles Leben auf unserem Planeten. Wir sind durch die Taufe in Christus vereint. Wir sind gereinigt. Wir sind gesegnet.

Das thematische Plenum stand unter dem Thema “The purpose of God’s love for the whole creation – reconciliation and unity”. Im Zentrum standen Fragen der Klimagerechtigkeit und die Situation im Nahen Osten.

Hyunju Bae aus Korea legte in ihrer Bibelarbeit Mt 9,35-38 aus. In der Zürcher Bibel heisst es: Als er (Jesus) die vielen Menschen sah, taten sie ihm leid. Die Lutherbibel übersetzt «es jammerte ihn». Die englische Übersetzung «he had compassion with them» bringt viel deutlicher zum Ausdruck, worum es an dieser Stelle geht. Bae führte uns vor Augen, wie zentral compassion/Mitgefühl für das Verständnis Jesu ist und zeigte auf, dass compassion eine wichtige Führungsqualität ist. Die Nachfolge Jesu führt zu einem Bewusstseinswandel. Statt einer «Macht über» brauchen wir eine «Macht mit», die von Anerkennung und Respekt geprägt ist gegenüber allen Geschöpfen Gottes. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel. In der ökumenischen Bewegung ist in letzter Zeit von einer «Ökumene der Herzen» die Rede. Ein hilfreiches Leitbild für die gemeinsame Nachfolge auf dem Weg des mitfühlenden Jesus.

Am Abend des 2. Versammlungstages trafen sich die unterschiedlichen Konfessionen, die Reformierten unter dem Dach des Reformierten Weltbundes. Es war ein eindrückliches Zeichen reformierter Vielfalt und weltweiter Verbundenheit. In diesem Rahmen wurde der ehemalige Generalsekretär des Reformierten Weltbundes Jerry Pillay aus Südafrika für sein neues Amt als Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen gesegnet und mit einer Bibel geschenkt. Pillay zeigte sich sehr gerührt von dieser Zeremonie. Er dankte für das Geschenk und meinte, es könne für einen Reformierten kein passenderes Geschenk geben als Gottes Wort.

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11. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Karlsruhe Tag 1

Nach über 50 Jahren findet wieder eine VV des ÖRK auf europäischem Boden statt. Dass der Tagungsort Karlsruhe meine Heimatstadt ist, freut mich natürlich besonders. In der Schwarzwaldhalle habe ich mein erstes grosses Konzert besucht (Uriah Heep). Nun treffen sich in Karlsruhe rund 4000 Christ:innen aus aller Welt, rund 850 sind Delegierte der Mitgliedskirchen, die in diesen Tagen wichtige Entscheidungen über den weiteren Kurs des ÖRK treffen und den Zentralausschuss wählen.

Am Eröffnungstag sprachen die Moderatorin des Zentralausschusses des ÖRK Dr. Agnes Abuom und der geschäftsführende Generalsekretär Prof. Dr. Ioan Sauca. Sauca betonte in seinem eindrücklichen Bericht, dass der ÖRK eine Plattform des Dialogs sei und schilderte die Bemühungen des ÖRK, die russisch-orthodoxe Mitgliedskirche in einen kritischen Dialog zu bringen. Besonders herzlich wurden die ukrainischen Teilnehmenden begrüsst. Im Blick auf den Palästinakonflikt unterstrich Sauca, dass der ÖRK sich entschieden gegen Antisemitismus wende, jedoch Menschenrechtsverletzungen und Unrecht gegen die palästinensische Bevölkerung beim Namen nenne. Er berief sich auf den Dialog mit den Christ:innen in der Region und mahnte zu Vorsicht und Besonnenheit und wandte sich gegen eine Gleichsetzung der israelischen Politik mit der Apartheid.

Zu Gast war auch der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der als aktives Mitglied der reformierten Kirche in seinem Grusswort eindrücklich das Logo der Vollversammlung thematisierte und mit seinem Aufruf, sich gegen jede Form des Antisemitismus klar zu positionieren, eines der heissen Eisen der Versammlung und den deutschen Kontext ins Spiel brachte. In sehr deutlichen Worten drückte Steinmeier die Solidarität mit der Ukraine aus, verurteilte den russischen Angriffskrieg und den Missbrauch des christlichen Glaubens durch die Führung der russisch-orthodoxen Kirche. Man solle sich durchaus als Plattform des Dialogs verstehen, dürfe dem Dialogpartner aber unangenehme Wahrheiten nicht ersparen. Man darf gespannt sein, wie die weiteren Diskussionen auf der Vollversammlung zu diesen Themen verlaufen werden.

Ein eindrückliches Erlebnis war der Eröffnungsgottesdienst. Das bunte Miteinander von Christ:innen und Christen aus aller Welt, die miteinander singen und beten, hat sich mir eingeprägt und die Vorfreude auf die Gottesdienste und Bibelarbeiten der kommenden Tage verstärkt. Dass er ein buntes Potpourri war und ziemlich lange dauerte, war zu verschmerzen.

Gespannt bin ich auch auf die thematischen Plenumsveranstaltungen. Wie wird hier in Karlsruhe über den Ukrainekrieg diskutiert werden? Wie wirkt sich der deutsche Kontext auf die Diskussionen zu Israel/Palästina aus? Welche Rolle werden Fragen des Postkolonialismus oder Genderthemen spielen? Was können die Kirchen gemeinsam zur Klimagerechtigkeit beitragen? Oder zu den brennenden Themen weltweiter Gerechtigkeit? Was heisst Einheit der Kirche heute und welche Einheit wollen wir anstreben? Und vor allem: kann das Thema der Vollversammlung «Die Liebe Christi bewegt, versöhnt und eint die Welt» uns geistlich stärken und ermutigen, unsere christliche Verantwortung in dieser Welt wahrzunehmen und uns dabei untereinander respektvoll und geschwisterlich darüber zu verständigen, wozu die Liebe Christi uns bewegt?

Bewegt von diesem Auftakt erwarte ich neugierig und gespannt auf die kommenden Tage.
Pfr. Bernd Berger

Eröffnungsgottesdienst
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Frohe Weihnachten

Frohe Weihnachten und ein erfülltes Jahr 2016

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Neue Wege gehen

Überraschende Möglichkeiten entdecken

Weggefährtinnen und Weggefährten finden

Gemeinsam unterwegs sein

Miteinander gestalten und experimentieren

Fehler machen

Erfolge feiern

Ruhe geniessen

Vertrauen wagen

Niemals aufgeben

Damit werden kann was möglich ist

Und Du verbunden bleibst mit der Quelle, die Dich nährt

Das wünsche ich Dir!

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Flüchtlinge brauchen unsere Grosszügigkeit

Nach längerer Zeit melde ich mich im Atemhaus wieder einmal zu Wort, und zwar mit meiner Predigt für den morgigen Eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettag, die ich zum Thema „Flüchtlinge brauchen unsere Grosszügigkeit“ halten werde. Als Bibelstellen habe ich einen Abschnitt aus dem 3. Buch Mose zugrundelegt (Und wenn ein Fremder bei dir lebt in eurem Land, sollt ihr ihn nicht bedrängen. Wie ein Einheimischer soll euch der Fremde gelten, der bei euch lebt. Und du sollst ihn lieben wie dich selbst, denn ihr seid selbst Fremde gewesen im Land Ägypten. Ich bin der HERR, euer Gott.“ – 19,33-34) und das Gleichnis vom Weltgericht aus Matthäus 25.

Liebe Gemeinde

Ethisch Wirtschaften – das ist das Thema der Bettagsbotschaft und der Bettagskollekte. Ein wichtiges Thema zweifellos. In der nächstjährigen Kampagne und Sammelperiode von Brot für Alle und Fastenopfer wird dieses Thema im Zentrum stehen. Wenn die christliche Botschaft für alle Bereiche unseres Lebens von Bedeutung ist – und davon bin ich überzeugt -, dann ist auch die Frage, wie wir wirtschaften, hier bei uns und weltweit, eine zentrale Glaubensfrage. In diesen Tagen aber beschäftigen uns alle die Bilder von Flüchtlingen, die Zuflucht suchen bei uns in Europa. Deshalb habe ich auch den kurzen Abschnitt aus dem 3. Buch Mose und den Predigttext aus dem Matthäusevangelium ausgesucht – als biblische Orientierungshilfe angesichts der gegenwärtigen Flüchtlingsnot.

In den letzten Wochen und Monaten hat sich fast unmerklich etwas verändert. Noch vor einem Jahr schien eine Haltung vorzuherrschen, die man etwa so umschreiben kann: Wir sind nicht verantwortlich für die Not der ganzen Welt. Wir müssen uns schützen vor dem Zustrom allzu vieler Flüchtlinge und Migranten. Es hat keinen Platz bei uns für die, die primär aus wirtschaftlichen Gründen flüchten. Gerade noch brannten in Deutschland Gebäude, die als Flüchtlingsunterkünfte vorgesehen waren. Und dann sahen wir plötzlich die Bilder von vollen Zügen, die von Ungarn über Wien nach München gelangten. Wir sahen die Bilder von den vielen Freiwilligen, die versuchten zu helfen, wo es nur ging, die die neu angekommenen Flüchtlinge willkommen hiessen. Und in dem durchorganisierten Land wurde plötzlich improvisiert und in dem Moment, in dem es vielleicht wirklich berechtigt gewesen wäre, von einer Flüchtlingsflut zu reden, dominierte auf den Strassen und in den Medien die Hilfsbereitschaft, die Solidarität, das Bedürfnis, Menschen in Not zu helfen. Ich weiss, dass es dann auch die Erfahrung der Überforderung gegeben hat, die Wiedereinführung von Grenzkontrollen usw. – aber diese beiden Wochenden, an denen Zehntausende von Flüchtlingen angekommen sind – und willkommen geheissen wurden, sie haben etwas verändert. Sie sind ein Hoffnungszeichen. Umso mehr als wir daneben auch die Bilder prügelnder Polizisten in Ungarn gesehen haben oder wie dort Essenspakete wie bei einer Tierfütterung in die Menge geworfen wurden, von den unsäglichen Äusserungen des Ministerpräsidenten ganz zu schweigen. Ich weiss nicht, wie es ihnen gegangen ist, aber mir ist bei diesen Bildern sofort klar geworden: ich weiss, in was für einem Europa ich leben möchte, nämlich in einem, das aussieht wie in München, wo Flüchtlinge willkommen geheissen werden und Hilfsbereitschaft erfahren und nicht in einem Europa, das so aussieht wie diese Bilder aus Ungarn.

Was sich da in der öffentlichen Wahrnehmung verändert hat, hat mehrere Ursachen. Schon die Bilder von kenternden Flüchtlingsbooten, das furchtbare Schicksal der ertrunkenen Flüchtlinge im Mittelmeer haben etwas verändert. Das Bild des ertrunkenen 3-jährigen Flüchtlingskindes Ailan an einem türkischen Strand hat viele berührt und uns fragen lassen: Ist es das was wir wollen oder zumindest in Kauf nehmen, um unsere Grenzen und unseren Wohlstand zu schützen? Und es waren wohl die Bilder dieser Menschenmengen an der ungarischen Grenze, die uns klargemacht haben: diese Menschen sind da, sie sind schon mitten unter uns und sie sind in Not. Wir müssen uns entscheiden zwischen einer Brutalität, die wir uns nicht zugetraut haben und einer Grosszügigkeit, die uns bis vor kurzem auch noch unmöglich schien.

Die beiden biblischen Texte, die wir vorhin gehört haben, geben uns in dieser Frage eine klare Orientierung. Und ich denke und hoffe, dass es auch die Stimme unseres Herzens tut. Die Antwort kann nur Grosszügigkeit sein.

Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen. Ich war nackt, und ihr habt mich bekleidet. Ich war krank, und ihr habt euch meiner angenommen. Ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen. (Mt 25,35f)

In dem Menschen, der unsere Hilfe braucht, begegnet uns Christus. Das ist kein vereinzeltes Bibelzitat. Es ist der rote Faden der Bibel, der Kern unserer christlichen Botschaft. Man kann im Christentum über vieles streiten, kann sehr unterschiedliche Glaubensansichten vertreten, aber dass wir Christus erfahren im Anruf des Anderen, in der Begegnung mit Menschen, die Hilfe und Zuwendung brauchen, gerade auch in Flüchtlingen, das können wir nur um den Preis der Selbstaufgabe zur Diskussion stellen. Am Umgang mit Bedürftigen und am Umgang mit Fremden erweist sich, wie wir Christus begegnen – viel mehr als in allen Bekenntnissen und Glaubenswahrheiten. Und auch der alttestamentliche Text aus dem 3. Buch Mose verbindet die Aufforderung, den Fremden nicht zu bedrängen und ihn wie einen Einheimischen zu behandeln, mit der Urerfahrung des Volkes Israel – „denn ihr seid selbst Fremde gewesen im Land Ägypten“. Die Erfahrung der Fremde, die Erfahrung der Befreiung und die Migration ist das Zentrum der vielbeschworenen jüdisch – christlichen Tradition. Sie ist unser Erbe, das wir niemals vergessen sollten.

Franz Hohler hat im Geiste dieser Tradition ein Flüchtlingsmanifest verfasst. Darin heisst es:

„Flüchtlinge machen uns ratlos.
Uns geht es gut, und nun kommen Menschen, denen geht es so schlecht, dass sie keinen anderen Weg sehen als ihr Land zu verlassen, und wenn es noch so schwierig ist. Der Tod, dem sie zu entkommen versuchen, lauert ihnen auch auf der Flucht auf.

Flüchtlinge machen uns Angst, denn sie kommen aus einem Elend, das uns fremd ist. Wir vergessen, dass sie es sind, die Angst haben.

Wir fühlen uns von ihnen überfordert. Wir vergessen, dass sie es sind, die überfordert sind von den Verhältnissen in ihrer Heimat und von all dem, was sie auf sich genommen haben.

Wir können uns nicht vorstellen, was es heisst, das Notwendigste zusammenzupacken und den Ort und das Haus, in dem wir gewohnt haben, zurückzulassen. Die Kinder mitzunehmen, obwohl gerade das Schuljahr begonnen hat, die Sprache zurückzulassen, in der wir zu Hause sind, der Zukunft mehr zu vertrauen als der Vergangenheit und der Gegenwart.

Für uns sind Flüchtlinge vor allem eine Bedrohung. Sie bedrohen die Selbstverständlichkeit unseres Normalbetriebs. Wir vergessen, dass sie es sind, die bedroht sind, und dass sie deshalb kommen.

Flüchtlinge machen uns hilflos, denn sie sind es, die Hilfe brauchen. Und wir wissen, dass wir sie ihnen geben könnten. Aber seit 1979 haben wir unsere Asylgesetzgebung fast 40 Mal revidiert und meistens verschärft.

Im Zweiten Weltkrieg hat sich die Schweiz mit dem Satz „Das Boot ist voll“ zu schützen versucht. Rückblickend hat sich gezeigt, dass es im Boot durchaus noch Platz gegeben hätte.

Wir dürfen diesen Satz nicht nochmals zu unserm Leitsatz machen.

Angesichts der mit Verzweifelten überfüllten Boote, angesichts der Ertrinkenden und Erstickenden gibt es nur eine Antwort: Grosszügigkeit.

Damit wir uns jetzt und später nicht zu schämen brauchen.“

(http://fluechtlings-manifest.ch/#manifest – das  Manifest kann man unterschreiben und weiterverbreiten!)

Grosszügigkeit muss unsere Antwort sein – auch wenn wir zuweilen Angst haben, dass uns diese Grosszügigkeit überfordern könnte, auch wenn manche uns als Gutmenschen verspotten, auch wenn es tatsächlich Grenzen des Machbaren und Verkraftbaren gibt und Behörden und Politik vor grossen Herausforderungen stehen. Zwei Äusserungen aus den Medien sind mir dabei wichtig geworden: IKRK-Chef Peter Maurer meinte in einem Interview auf die Frage, ob er ein Gutmensch sei: „Es ist eine Sauerei, wenn Leute, die Grundwerte der Humanität vertreten, in der Politik mit diesem Begriff stigmatisiert werden. Ich hoffe doch, es gibt insgesamt mehr Gutmenschen als andere. Ich hätte gerne viele pragmatische Gutmenschen. Leute, die den Willen haben zu helfen, aber auch die Fähigkeit zu konkreten Entscheiden.“ (Sonntagszeitung vom 12.9.15)

Und der Vorsitzende des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes hat geschrieben: „Wir Schweizer sind privilegiert. Uns geht es wirtschaftlich gut. Seit über 150 Jahren sind wir von Krieg verschont geblieben. Wenn wir jammern, dann auf hohem Niveau. Dass wir uns für die weniger Glücklichen engagieren, ist unter diesen Umständen moralische Pflicht. Wir können noch viel mehr für die Flüchtlinge tun, als wir bereits tun. Und wir sollten mehr tun. Das Boot ist nicht voll. Gerade wir Schweizer, die wir zu Recht stolz sind auf unsere humanitäre Tradition, sollten alle Flüchtlinge unabhängig von den Gründen für ihre Flucht in erster Linie als das behandeln, was sie sind: als Menschen. Sind wir ihnen gegenüber engherzig statt grosszügig, verlieren wir auch unsere eigene Würde.“ (NZZ vom 10.9.15)

Was können wir tun? Wir können Grosszügigkeit zeigen statt Engherzigkeit, ohne unsere Ängste vor den Fremden zu verdrängen und ohne die Ängste anderer zu verurteilen. Wir müssen uns nichts vormachen, die Aufgabe wird schwierig und die Flüchtlingsströme werden auch vermehrt die Schweiz erreichen. Aber sie ist notwendig und sie ist lösbar durch Grosszügigkeit und Engagement. Die Gesamtkirchgemeinde Thun hat schon eine Wohnung für eine Flüchtlingsfamilie zugesagt. Aber es wird noch mehr brauchen, mehr Wohnraum, mehr finanzielle Hilfe und das Engagement von Freiwilligen, die die Menschen, die zu uns kommen, erfahren lassen, dass sie willkommen sind und ihnen helfen, sich mit dem Leben bei uns vertraut zu machen. Dazu stärke und ermutige uns Jesus Christus, der uns in all denen begegnet, die unsere Hilfe brauchen. Amen.

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Der Islam gehört zur Schweiz

24. Januar 2015 2 Kommentare

Unter diesem Titel habe ich in der heutigen Ausgabe des Thuner Tagblatts mein Wort zum Sonntag geschrieben:

Angesichts der Anschläge auf die Charlie-Hebdo-Redaktion und einen jüdischen Supermarkt in Paris und der Terrordrohungen mit islamistischem Hintergrund in Europa, ist das keine einfache und selbstverständliche Feststellung. Aber sie ist nötiger denn je! Denn über 400‘000 Menschen in unserem Land sind muslimischen Glaubens – viele sind säkular ausgerichtet, andere leben mehr oder weniger streng nach den Regeln ihrer Religion. Sie gehören zu uns und die meisten von ihnen hegen nicht die geringsten Sympathien für islamistischen Terror und Gewalt.

Es war beeindruckend, wie klar und unmissverständlich praktisch alle muslimischen Organisationen die Anschläge in Frankreich als niederträchtig und unislamisch verurteilt haben. Dieses klare Zeichen war notwendig und wichtig. Denn jede Religion muss sich mit ihren Schattenseiten und ihrem Gewaltpotential auseinandersetzen. Wo Menschen im Namen eines Gottes Gewalt ausüben, kann diese Gewalt völlig enthemmt und gnadenlos werden. Das spricht nicht gegen Religion, aber gegen Absolutheits- und Durchsetzungsansprüche. Glaube kann nur überzeugen, niemals zwingen, sonst wird er gewalttätig. Unter dieser Voraussetzung ist Glaube für Menschen eine Heimat und eine Lebenskraft.

Gute Satire gibt die Zerrformen und den Missbrauch einer Religion durch Zuspitzung der Lächerlichkeit preis. Macht sie ganze Religionen oder Ethnien lächerlich, darf und muss dies kritisiert werden. Aber eine Religion muss Satire aushalten. Und wenn bei den Protesten im Niger die Hälfte der christlichen Kirchen in Brand gesetzt wird und zehn Menschen ums Leben kommen, dann geht es nicht um die Grenzen von Satire, sondern um ein religiöses Gewaltproblem. Auch hier gilt unsere Solidarität und unser uneingeschränktes Mitgefühl den Opfern.

Der Islam gehört zur Schweiz – nicht nur in seinen säkularen oder liberalen Ausprägungen, sondern auch in seinen konservativen Erscheinungsformen. Die Religionsfreiheit ist ein hohes Gut und sie fordert unsere Akzeptanz auch für Lebensformen und Traditionen, die uns fremd und fragwürdig erscheinen, solange sie andere in ihren Rechten und Freiheiten nicht einschränken. Akzeptanz heisst aber nicht Zustimmung. Wir sind es uns schuldig, für unsere Werte wie die Gleichheit von Frau und Mann, das Recht auf freie Meinungsäusserung, die Vielfalt der Lebensformen, das Recht auf Abkehr von einer Religion einzutreten – und zwar mit Argumenten und mit Zivilcourage. Wir können es nicht gutheissen, wenn Menschen in Gläubige und Ungläubige eingeteilt werden und den vermeintlich Ungläubigen die gleiche Würde und die gleichen Rechte abgesprochen werden.

Der Islam gehört zur Schweiz. Gewaltbereiter Islamismus aber gehört nicht zur Schweiz und religiöse Hassprediger ebenso wenig. Hier findet die geforderte Toleranz ihre Grenze und es ist notwendig, alle rechtsstaatlichen Mittel auszuschöpfen. Hier darf der Rechtsstaat nicht gleichgültig oder machtlos sein. Damit junge Muslime sich aber nicht von Hasspredigern, die ja auch im Internet zu finden sind, verführen lassen und sich radikalisieren, braucht es zuerst die Botschaft, dass der Islam zur Schweiz gehört und dass Muslime bei uns partizipieren, Lebenschancen erhalten und ihren Glauben leben können. Es darf keinen Generalverdacht gegen Muslime geben. Deshalb haben die christlichen Kirchen in Deutschland sich klar und deutlich gegen Pegida ausgesprochen und wir sollten auch dem geplanten Schweizer Ableger eine klare Haltung entgegensetzen. Die Ängste der Menschen müssen wir ernst nehmen. Zugleich müssen wir klar aufzeigen, wes Geistes Kind die Initianten von Pegida sind.

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Frohe Weihnachten

25. Dezember 2013 1 Kommentar

Ein frohes Weihnachtsfest und eine guten Start ins neue Jahr wünsche ich allen!

Weihnachtskarte 2013

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Gedanken zur Jahreslosung 2013

„Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Dieser kurze Vers aus dem Hebräerbrief ist die Jahreslosung für das Jahr 2013.

Die Jahreslosung beginnt mit einer Negation: „Wir haben hier keine bleibende Stadt.“ Unser Glaube ist verbunden mit einer existentiellen Heimatlosigkeit in dieser Welt. Etwas zugespitzt gesagt: Die Klage über den Verlust von Heimat, über die verlorenen früheren Zeiten, das Jammern, dass früher alles – oder doch vieles – besser war, ist dem christlichen Glauben zutiefst fremd. Und ich spitze diese Feststellung gerne noch einmal zu: Der christliche Glaube ist im Verständnis des Hebräerbriefs in seinem Wesen zukunftsorientiert, progressiv und weit weg von einem konservativen Bewahren des Vergangenen oder des Bestehenden. Christlicher Glaube bejaht und begrüsst den Wandel und klammert sich nicht an das Bestehende.

Aber diese existentielle Heimatlosigkeit ist verbunden mit einer existentiellen Gewissheit. Ich möchte sie beschreiben mit den wunderbaren Worten aus dem Römerbrief: „Denn ich bin mir gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, weder Hohes noch Tiefes noch irgendein anderes Geschöpf vermag uns zu scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ (Röm 8,38f). Diese existentielle Gewissheit trägt uns im Wandel unserer Zeiten. Sie gibt uns die Kraft, Vergangenes loszulassen, uns einzulassen auf das Neue und es mitzugestalten, im Wissen darum, dass auch das Neue immer nur vorläufige Antwort und Durchgangsstation sein kann.

Als Suchende sind wir unterwegs – nicht als die, die schon gefunden haben. Aber als Suchende sind wir getragen von einer Verheissung, von dem Versprechen Gottes, dass bei ihm nichts und niemand verloren ist und in der zukünftigen Stadt alles Leid und alle Tränen abgewischt sein werden und sogar der Tod nicht mehr sein wird. Wir haben das Versprechen, dass all die Bruchstücke unseres Lebens, die für uns vielleicht noch keinen Sinn ergeben, von Gott heil und ganz gemacht werden.

Suchende sind wir. „Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Aber als Suchende trägt eine existentielle Gewissheit. Daraus dürfen wir Kraft und Zuversicht schöpfen – auch in diesem neuen Jahr.

Meine vollständige Predigt zur Jahreslosung ist hier zu lesen.

Den inneren Menschen erneuern

Im 2. Korintherbrief, Kapitel 4, Vers 16 schreibt Paulus: „Darum verzagen wir nicht: Wenn auch unser äusserer Mensch verbraucht wird, so wird doch unser innerer Mensch von Tag zu Tag erneuert.“ Es ist der Eingangsvers des heutigen Predigttextes. Inmitten all der Erfahrungen, die uns oft müde und verzagt machen, lenkt Paulus unseren Blick auf das Unsichtbare, auf den Lebensgrund, die Quelle aus der wir trinken. Wir brauchen für unser Leben einen inneren Kompass, eine heitere Gelassenheit, damit wir nicht müde und verzagt werden.

Solch heitere Gelassenheit kann wachsen aus dem Vertrauen, dass unser Leben in Gottes Hand steht. Sie kann ein innerer Kompass für unser Leben sein. Und weil wir nicht alles von diesem Leben erwarten müssen und weil auch nicht alles auf uns ankommt, können wir hier und jetzt das uns Mögliche tun und uns immer wieder neu auf das Wesentliche konzentrieren. Das müssen keine grossen Dinge sein.

Am Ende der Predigt habe ich den wunderbaren Kabarettisten Hanns Dieter Hüsch zitiert. Vor Jahren beendete er – wohlgemerkt auf der Kleinkunstbühne und nicht auf der Kanzel – seine Auftritte mit einer kurzen Zugabe als Schlusspunkt:

Ich sah einen Mann

mit seiner Frau

Beide schon älter

Die Frau war blind

Der Mann konnte sehen

Er fütterte sie

Das ist alles

Gute Nacht.

Die ganze Predigt ist hier zu lesen.