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Saitensprung

2. September 2010 2 Kommentare

Manchmal – nicht nur mit dem Alter – müssen Menschen erfahren, dass sie nicht mehr über ihre gewohnten Kräfte verfügen, dass Dinge, die einmal selbstverständlich waren, nicht mehr möglich sind.  Als Pfarrer bekomme ich dann gelegentlich ein resigniertes „Was bin ich denn überhaupt noch wert?“ zu hören. Es hat meist etwas sehr Destruktives und Entmutigendes, wenn wir uns mit anderen vergleichen, die Dinge besser können, wenn wir mit eigenen früheren Möglichkeiten vergleichen. Es ist ein entscheidender Unterschied, ob wir über unsere Grenzen und unsere gescheiterten Versuche klagen oder ob wir staunen können über das, was möglich ist. In einer Saemann-Kolumne hat Lorenz Marti dazu eine wunderbare kleine Geschichte erzählt, die ich hier weitergeben möchte (mit einem Dank an ihn für die Erlaubnis):

Saitensprung

   Ich habe mich einmal, lange ist’s her, mit einer Geige abgemüht. Ich war ein Kind und sollte ein Instrument spielen lernen. Die Geigenlehrerin hatte es schwer mit mir: Ich habe kaum geübt. Ich kam unvorbereitet in die Stunde und strich mit dem Bogen lustlos über die Saiten. Es tönte falsch, manchmal blieb ich auch stecken. Du musst besser üben, ermahnte mich die Lehrerin, selber eine bekannte Geigerin. Ich übte nicht besser. Ich übte gar nicht. Es war ein Fiasko. Irgendeinmal haben wir uns getrennt, die Geigenlehrerin, die Geige und ich.

   Und jetzt lese ich von einem der bekanntesten Geiger und staune: Itzhak Perlman hat unter schwierigsten Umständen zu wahrer Grösse gefunden. Er wurde 1945 in der israelischen Hafenstadt Jaffa geboren. Als Vierjähriger erkrankte er an Polio, ist seither behindert, trägt Stützen an beiden Beinen und geht an Krücken, oft unter grossen Schmerzen. Schon als Kind hatte er eine grosse Leidenschaft: die Geige. Ganz für sich alleine erprobte er die Möglichkeiten dieses Instruments. Er übte unermüdlich und brachte es so weit, dass er in die Musikakademie von Tel Aviv aufgenommen wurde. Damit begann ein kometenhafter Aufstieg. Innert weniger Jahre wurde Perlman zum grossen Star unter den Geigern. Er zog in die USA und füllt dort bis heute die Konzertsäle.

   Bei einem Konzert in New York passierte ihm einmal ein Missgeschick. Er hatte eben die ersten Akkorde gespielt, als eine Saite riss. Es wurde ganz still im Saal. Perlman wartete, schloss für einen Moment die Augen und bat dann den Dirigenten, noch einmal zu beginnen. Das Orchester setzte ein, und der gebrechliche Geiger spielte mit so viel Leidenschaft und Hingabe, dass sich das Publikum am Schluss erhob und minutenlang applaudierte. Es soll eines seiner besten Konzerte gewesen sein.

   Eigentlich ist es gar nicht möglich, ein Violinkonzert mit drei Saiten zu spielen. Itzhak Perlman wollte sich dieser Unmöglichkeit  nicht beugen. Er erfand das ganze Stück neu, veränderte es und entlockte seinem Instrument Töne, wie er sie noch nie gespielt hatte. „Wissen Sie“, meinte er am Schluss, „manchmal ist es die Aufgabe eines Künstlers herauszufinden, wie viel Musik man noch machen kann mit dem, was einem übrig geblieben ist.“ (Hervorhebung von mir)

   Auch wenn ich mit der Geige gescheitert bin, auch wenn ich sonst im Leben einiges nicht geschafft oder verloren habe – dieser eine Satz zeigt, dass das alles nicht so wichtig ist. Musik kann man immer machen. Sogar mit nur drei Saiten.

 Lorenz Marti   (erschienen in der Rubrik „Spiritualität im Alltag“ in der Zeitschrift saemann im Juni 2007)

Das zweite Buch von Lorenz Marti mit dem Titel „Mystik an der Leine des Alltäglichen“ ist kürzlich als Herder-Taschenbuch erschienen.

Helfen und sich helfen lassen

2. Juli 2010 2 Kommentare

Helfen und sich helfen lassen

Es ist ein schreckliches Gefühl, wenn man überzeugt ist, dass man eh keine Chance hat. Wenn man meint, sowieso nicht die richtigen Worte zu finden und besser den Mund hält. Wenn man sich verlassen fühlt. Wenn man immer einen Tick zu langsam ist. Wenn man einfach nicht mithalten kann. Oft hilft es dann nicht, sich einfach noch mehr anzustrengen, Dinge noch stärker erzwingen zu wollen. Manchmal hilft dann nur noch ein Blickwechsel – nicht mehr desselben, sondern etwas anderes zu tun. Zum Beispiel das Messen und Vergleichen mit denen, die mehr haben, schneller sind, Dinge besser können, aufzugeben und mich auf das zu besinnen was ich kann und was mir Freude macht. Oder mir nicht immer und jederzeit selbst zu helfen und alles im Griff haben zu wollen, sondern eingestehen, dass ich Hilfe brauche und mir helfen lassen. Oft sind dabei beide die Beschenkten – der, der sich helfen lässt und der, der seine Fähigkeiten einsetzen kann, um dem anderen zu helfen.

Und umgekehrt gilt auch: wer seine Kräfte für andere einsetzt, wer seine Mitmenschen wahrnimmt und sich von ihnen berühren und zum Handeln aus Liebe anstiften lässt, der wird bereichert, dessen Leben gewinnt an Sinn. Wer sich Zeit nimmt, für den, der Zeit und Zuwendung braucht, der hat seine Zeit sinnvoll eingesetzt. Und wer Rückgrat zeigt und den Mund aufmacht für andere, auch dann wenn es unbequem oder unpopulär ist, der lernt etwas vom Kostbarsten – den aufrechten Gang.

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